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Kruzifix

Don’t read my diary when I’m gone. OK, I’m going to work now. When you wake up this morning, please read my diary. Look through my things, and figure me out. (Kurt Cobain: Journals)
Lust auf regelmäßige Updates oder Infos? Dann bitte schriftliche Bestätigung per Mail an ke@kurteimers.de

 

 

Neue Serie – für genau 1 Jahr:

Murmeleien eines bekennenden 68ers

Merke: Der massenhaft-inflationäre, sinnentleerte Gebrauch eingängiger Formulierungen führt zu massenhaft-inflationärer, sinnentleerter Akzeptanz eingängiger Formulierungen.

 

So ein Käse

 

 

KurtsWellen

Wie ein Staat bei Zeitenwende agieren sollte…

Was soll unser Staat tun in dieser Zeitenwende mit all ihren Herausforderungen? Ein Blick zurück in die Geschichte mag da helfen, ins Frankreich des Jahres 1945:
„(…) Es ist die Aufgabe des Staates, die Erschließung der großen Energiequellen (…) sowie der wichtigsten Transport- und Übertragungsmittel, von denen alles andere abhängt, sicherzustellen (…) Es ist seine Aufgabe, über Kredite zu verfügen, um die nationalen Gelder in die großen Investitionen zu lenken, die solche Entwicklungen erfordern, und zu verhindern, dass Interessengruppen dem allgemeinen Interesse entgegenwirken können.“
(Charles de Gaulle, 2. März 1945, über die Aufgaben des Staates angesichts der extremen Lage Frankreichs am Ende des 2. Weltkrieges)

 

 

Ostern auf See

auf dem großen weiten meer
ostert es gerade sehr
drum sollte man beizeiten
eierfarben vorbereiten
weil an den längen und den breiten
graden in solch krummen zeiten
hasen eierfarben brauchen
wenn sie nach ostereiern tauchen

 

 

 

Das Nachbarbett

immer wieder
mitten in der nacht
tür auf licht an
einmarsch der pflegekräfte
intensive zuwendung
am nachbarbett

heben drehen wenden
seufzen stöhnen ächzen
beruhigen fragen trösten
aufdecken ausrichten zudecken
pflege hilfe menschlichkeit
dann irgendwann
ein letztes alles gut
zu den schritten hinaus
zum licht wieder aus
tür fällt ins schloss
und in all der zeit
im bett daneben
liegt einer
aufgewacht
rausgerissen
aus mühsam selbst erkämpftem schlaf
einer der alles
miterlebt
gehört gerochen und gefühlt
und der weiß
dass auch in dieser nacht
und in den folgenden
es wieder so geschehen wird
und der jetzt wach liegt wartet
dass es losgeht
mit dem leisen rufen und dem stillen jammern
bis dass dann endlich ruhe kommt
aus dem tropf über dem
nachbarbett

mitleid
könnte man meinen
kommt von
mitleiden

 

Poèmes Bébé en 9 Mois

1

les bébés
sont nés
bouche bée
seraient-ils
étonnés ?

2

un bébé
bcbg
conditionné
absolument
à éviter !

3

le bébé
a prolongé
visiblement
la courbe d’horizon
de sa maman

4

le bébé
côtes des parents a.o.c.
cuvée exceptionnelle
mis en bouteille
au domaine ?

5

le bébé
bonne année
pas encore né(e)
il prend son temps
jusqu’au printemps

6

un bébé
au sexe ignoré
garde sa neutralité
devant la question
du prénom

7

les bébés
sont alertés
face à un monde
changé
en no-man’s-land

8

les bébés
ont l’habitude
plutôt rude
de se manifester
à coups de pieds

9

le bébé
ensanglanté
poussé tiré lavé crêmé
crie au nez
du monde entier

 

 

Die kleinen Mönche

Episode 2: Der Kampf ums Bachwäldchen

(Geschichten aus dem Reihenendhaus oder wie so was wie ein Märchen weitergeht)

Hinweis an die Leserschaft: Der jeweils neue Text, also die Fortsetzung, befindet sich immer unten am Ende des blauen Textes. Ich nenne das Erwartungsscrollen.

Was bisher geschah

Ein Mädchen namens Karoline hat im Alter von fünf Jahren eines Nachts eine merkwürdige Begegnung, an die sie sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann. Vier Jahre später – Karoline ist inzwischen neun und mit ihren Eltern gerade umgezogen – hat sie die gleiche Begegnung wieder. Und dieses Mal bleibt nicht nur die Erinnerung, dieses Mal treten fünf kleine Mönche in ihr Leben. Die Winzlinge kommen von ziemlich weit her, haben ihre Heimat Tibet verlassen müssen, leben in Deutschland jetzt sozusagen im Exil und haben auf dem Dach eines Straßenbahndepots ein neues Zuhause gefunden. So weit, so gut. Doch eines Tages fängt ein Trupp Elstern an, die kleinen Mönche erst zu bedrohen, dann zu verfolgen und immer wieder anzugreifen. Und obwohl die kleinen Mönche den einen oder anderen Zaubertrick drauf haben, schaffen sie es nicht, sich der Elstern zu erwehren. Die Elstern scheinen immun zu sein gegen die Zauberkünste der kleinen Mönche.
Also haben sich die kleinen Mönche in einen Umzugskarton geschlichen und sind mit Karoline und ihren Eltern umgezogen. Und in der ersten Nacht im neuen Zuhause nehmen sie wieder Kontakt auf zu Karoline. Sie soll ihnen helfen. Nachdem sich Karoline die Geschichte der kleinen Mönche angehört hat, willigt sie ein.
Nach und nach aktiviert Karoline ein paar Erwachsene, die ihr beim Helfen helfen: erst ihren Vater, dann einen Künstler, der im Straßenbahndepot Karnevalswagen baut, und schließlich ihre Mutter. Nach einigen Überlegungen, Nachforschungen und Aufregungen gelingt es, den Grund für das merkwürdige Verhalten der Elstern zu finden: Sie fressen seit einiger Zeit schon von einem Fischmehl, wie man es an Hühner verfüttert. Dieses lagert in einem vergessenen Raum im Straßenbahndepot, ist lange schon über die Mindesthaltbarkeit hinaus und deshalb – giftig. Nachdem sie den Raum entdeckt haben, sorgt der Künstler dafür, dass er verschlossen und das Hühnerfutter entsorgt wird. So können die Elstern, die schon eine Sucht nach dem Zeugs entwickelt haben, nicht mehr ran und müssen sich ihr Futter wieder anderweitig suchen. Dies führt dazu, dass sie sozusagen entgiftet und somit wieder ungefährlich werden. Weil dies aber eine ganze Weile dauern wird, bleiben die kleinen Mönche bis auf Weiteres bei Karoline und ihren Eltern in deren neuem Zuhause.

Und da sind sie nun – und mittendrin in einem neuen Abenteuer…

 

Vorwort

Morgen bin ich weg. Raus aus der kleineren Stadt neben der großen Stadt. Was nicht weiter tragisch ist. Raus aus meinem Zuhause, aus dem Reihenendhaus, aus meinem Zimmer. Das ist schon ein bisschen traurig. Und weg von Mama und Papa. Das ist schon ziemlich traurig. Andererseits: Ich will jetzt mein Leben so führen, wie ich es will. Wenn ich zu Hause bliebe, würden mein Leben und das von Mama und Papa regelmäßig auseinander laufen. Oder ineinander krachen. Beides blöd. Also ziehe ich morgen aus. Und mach mich auf in eine wirklich große Stadt: Berlin. Dort kann ich erst mal bei einer Freundin wohnen, ich habe eine Stelle für meinen Freiwilligendienst, und den Rest sehen wir dann. Aber vorher musste ich hier noch was erledigen. Und daran ist die dicke Kladde schuld, die gerade vor mir liegt. Denn:

Nachdem wir das Abenteuer mit den Elstern gut überstanden hatten, habe ich die Geschichte der kleinen Mönche regelmäßig weitergeschrieben. In vielen Episoden. Denn die Mönche waren ja mit ins neue Zuhause gezogen. Immer wenn wieder sowas Kleinemönchemäßiges passiert war in unserem Leben – zack, hat Karoline es aufgeschrieben. Und dabei ist einiges zusammengekommen. Die erste dieser Episoden, die erzählt, wie alles zu dem kam, wie es dann war und war, die habe ich ja damals direkt aufgeschrieben. Die anderen kamen über die Jahre nach und nach hinzu – und dann in die Kladde, zur „Akte kleine Mönche“. Und die wurde darüber immer fetter. Anderen habe ich natürlich nie was von unseren kleinen Mitbewohnern erzählt. Und wenn, dann konnten sich später nichts davon erzählen. So wie meine Eltern auch nichts erzählen konnten, wenn sie was gewusst haben, so zwischendurch. Warum doch und dann wieder nicht, erfahrt ihr noch. Und die Kleinen Mönche konnten aus verständlichen Gründen auch gut auf weitere Bekanntschaften verzichten. Wobei…

In den letzten Wochen habe ich alle Kleine-Mönche-Episoden aus all den Jahren noch einmal gesichtet und geordnet. Geordnet, ich! Jetzt sind sie präsentabel. Ich habe sie hier und da sogar ein bisschen überarbeitet. So eine Art Selbst-Lektorat.

Doch nun genug der schönen Vorworte. Jetzt lest mal diese zweite Episode, die erste echte Kleine-Mönche-Story aus dem Reihenendhaus. Viel Spaß wünscht euch eure Karoline.

 

Kapitel 1: Die Gemeinheit der kleinen Mönche

Willkommen in der neuen Wartezeit, dachte ich. Und dann: Verflixt, welchen Namen geb ich jetzt dieser Elster?

Diese erste der Kleine-Mönche-Geschichten aus dem Reihenendhaus beginnt nicht ohne Grund mit den beiden Sätzen, mit denen ich die Erzählung meiner Erlebnisse rund um die kleinen Mönche, die Elstern, das vergammelte Hühnerfutter und den ganzen daraus resultierenden Problemen beendet habe. Wobei das Problem mit dem Namen für die zahme Elster – meine Elster! – relativ schnell gelöst wurde. Und zwar durch einen genialen Einfall meines Vaters. Also noch mal von vorn:

Willkommen in der neuen Wartezeit, dachte ich. Und dann: Verflixt, welchen Namen geb ich jetzt dieser Elster? Diesmal hatte ich laut gedacht. Meine Eltern schwiegen. Vor unserer Garage hielt Papa an, Mama und ich und die Elster stiegen aus (okay, die Elster stieg nicht aus, die saß auf meiner Schulter), Papa fuhr das Auto in die Garage, stieg aus, macht das Tor zu und sagte, nachdem das Tor schön geknallt hatte:
– Finanzamt. Wir nennen die Elster natürlich Finanzamt.
Mama lachte und schüttelte den Kopf, als ich sie fragte, wieso Papa die Elster so nennen wollte:
– Das soll er dir mal schön selbst erklären.
Während wir zu unserem Reihenendhaus gingen, fasste Papa sich erstaunlich kurz:
– Ist doch klar, weil beide diebisch sind.
Das mochte Mama so nicht stehen lassen.
– Kind, sagte sie, dein Vater redet mal wieder Quatsch. Elster steht für Elektronische Steuererklärung. Das heißt, mit Elster können die Menschen in Deutschland ihr Steuergedöns fürs Finanzamt im Internet machen, also online, ohne Papier. Das ist praktisch.
Inzwischen waren wir vor der Haustür angekommen. Mein Vater schaute meine Mutter mit einem Gesichtsausdruck zwischen extrem beeindruckt und fassungslos an:
– Also manchmal erstaunst du mich wirklich, Frau.
Dann gingen wir rein.

In den folgenden Tagen waren die kleinen Mönche damit beschäftigt, sich auf unserem Speicher häuslich, also mönchisch, einzurichten. Dazu schickten sie zuerst die Elster los, um ihren Freund, den großen Hund, zu bitten, ihre Einrichtungsgegenstände und Habseligkeiten zu bringen. Ein echter Umzugshund, dachte ich. Ein paar Mal pendelte der Hund zwischen Straßenbahndepot und Reihenendhaus hin und her, dann war der Umzug erledigt. Da dies alles nachts geschah, bekamen wir davon nichts mit. Wir schliefen alle drei – Mama, Papa und ich – ein paar Nächte hintereinander tief und fest. Ungewöhnlich tief und fest, wenn ich’s mir recht überlege.
Eines Samstagmorgens dann, als wir gerade frühstückten, fanden wir uns plötzlich alle drei samt Tisch und Stühlen in einer großen Glitzerglocke wieder.
– Fertig! riefen die kleinen Mönche. Alle fünf hatten sich zwischen Tellern, Tassen, Marmeladen- und Honiggläsern versammelt und mit ihrem Zauberglitzer die Glitzerglocke geformt, damit wir die kleinen Kerle besser sehen und wir gut miteinander sprechen konnten.
– Wie, fertig? fragte Mama.
– Wir sind, verehrte Mutter der Karoline, mit dem Umzug fertig, erklärte Meister Alhasa.
– Klasse, rief ich, kann ich mal gucken kommen, wie das bei euch aussieht?
– Liebe Freundin Karoline, sagte der Abt, das möchten wir leider nicht. Vergiss nicht, dass alles sehr, sehr klein ist.
– Und sehr, sehr zerbrechlich, fügte Ilhasa hinzu.
– Und wenn ich mal was vom Speicher brauche?, frage Mama, schließlich habe ich da einiges gelagert.
– Ach, weißt du, ehrenwerte Karolinenmutter, sagte Ulhasa, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, du wirst gar nicht wissen, dass…
– Ulhasa, was redest du?, fiel ihm der Abt ins Wort, natürlich weiß die verehrungswürdige Mutter der Karoline, dass wir da sind. Wir alle, die wir die Elsterngeschichte bewältigt haben, sind jetzt Teil eines exklusiven Geheimbundes.
Alhasa wandte sich an uns drei:
– Ihr werdet es nur nicht merken.
– Wissen. Merken. Kann ich jetzt mal in Ruhe weiter frühstücken?, grummelte Papa.
– Ooooh, frühstücken, seufzte Olhasa, was für eine wunderbare, geradezu transzendentale Idee.
– Ich denke, wir gehen jetzt mal besser, sagte Alhasa und schnippte mit seinen Fingern die Glitzerkugel weg. Dann verschwanden unter fünffachem Nicken und Aufwiedersehenwinken die kleinen Mönche aus unserem Gesichtsfeld.

Der Rest des Samstags verlief ohne erwähnenswerte Ereignisse. Am Abend war ich ungewöhnlich aufgedreht. Ans Schlafen kein Gedanke. Ich hatte ja auch in den vorangegangenen Nächten lange und tief genug geschlafen. Mein Eltern schüttelten nur den Kopf, murmelten irgendwas mit „Geht jetzt die Pubertät schon los beim Kind?“ und gingen nach einer Doku auf Arte ins Bett. Ich lag in meinem Zimmer. Und lag dort lange wach. Irgendwann, es war kurz nach Mitternacht, schaute ich nach meinem Gang aufs Klo aus dem Fenster. Ein großer Schatten huschte durch den Garten, sprang über den Jägerzaun der Nachbarn und verschwand. Es war der große Hund der kleinen Mönche. Ob die noch immer beim Umzug waren? Oder machten sie schon ihre erste Erkundungsrunde in ihrem neuen Revier? Achselzuckend legte ich mich wieder ins Bett und schlief endlich ein.

Am nächsten Sonntagmorgen beim Frühstück fragte ich meine Eltern, wann wir denn mal Fred Fortein besuchen, um ihm zu erzählen, wie gut es den kleinen Mönchen geht bei uns.
– Fred Fortein? Kenn ich nicht. Sagte Papa.
– Was für Mönche? Fragte Mama.
– Wieso kennt ihr die nicht? Die wohnen doch bei uns. Und Fred ist unser Freund und hat uns geholfen, die kleinen Mönche vor den Elstern zu retten und die Elstern wieder gesund zu machen und…
– Kind, sagte Mama streng, jetzt ist es gut.
– Liest du gerade so was wie ’nen neuen Harry Potter?, fragte Papa. Und fügte hinzu: Erzähl so einen Kram bloß nicht deinen neuen Freundinnen in der Nachbarschaft, und schon gar nicht in deiner neuen Schule.
– Okay, okay, ist ja schon gut. Hab nur Spaß gemacht.
– Komischer Spaß, sagte Mama.
Ich sagte dann vorsichtshalber erst mal gar nichts mehr. Denn in mir keimte ein böser Verdacht. Ein ziemlich böser.

Irgendwann am Nachmittag fragte ich meine Eltern, ob ich mich in den nächsten Tagen mal nachmittags mit meiner Freundin Marie in Düsseldorf treffen dürfte. Ich hatte ja meine Monatskarte, mit der kam ich ziemlich weit mit dem ÖPNV.
– Wir wollen in den krassen Laden in der Altstadt, wo es diese tollen Klamotten gibt.
Meine Eltern blickten alarmiert.
– Nur zum Gucken. Und dann lecker Eis oder Pommes oder so.
– Gut, sagte Papa, aber zum Abendessen bist du zu Hause.

Natürlich traf ich mich dann nicht mit Marie. Ich hatte einen ganz anderen Plan: Ich wollte zum Straßenbahndepot, zu Fred Fortein. Auf dem Weg zur Bushaltestelle rief ich aus einer Telefonzelle Marie an.
– Ich muss was erledigen, aber meine Eltern dürfen nichts wissen, deshalb hab ich ihnen gesagt, ich treffe mich mit dir. Nur damit du Bescheid weißt. Und bitte keine weiteren Fragen.
Kurzer Moment der Stille am anderen Ende. Dann:
– Okay.
Marie ist wirklich eine prima Freundin.

Eine gute Stunde später: Ausstieg an der Endstation, rüber zum Depot. Da war noch immer diese Art Pförtnerhaus. Und drinnen saß, leider auch noch immer, der Kotzbrocken in Uniform. Als er mich sah, öffnete er im großen Pförtnerhausfenster ein kleines Sprechfenster:
– Na, kleines Frollein (er sagte wirklich „Frollein“), wo wollen wir denn hin?
– Guten Tag, sagte ich betont freundlich, erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin eine Freundin von Fred Fortein.
– Der Karnevalsspinner? Den kenn ich, aber dich, kleines Frollein, seh ich heut zum ersten Mal. Und du willst eine Freundin von dem sein? Glaub ich nicht.
Also auch bei dem null Erinnerung.
– Aber da kommt der Fortein ja grad, sagte der Pförtner, kannste ihn ja selber fragen, ob du seine Freundin bist, hahaha.
Tatsächlich kam Fred Fortein gerade über den riesigen Depothof geschlendert.
– Hallo Fred, wie geht’s? Schönen Gruß von den kleinen Freunden, du weißt schon.
Ein freundlich lächelnder Fred Fortein sah mich verdutzt und fragend an:
– Ja, guten Tag auch, kennen wir uns?
Oh nein, dachte ich, auch Fred erinnert sich nicht. Langsam wurde aus meinem bösen Verdacht Gewissheit. Aber vorher wagte ich noch einen letzten Versuch:
– Hat die Stadt schon etwas gegen das giftige Hühnerfutter hinten im Depot unternommen? Das, was die Elstern immer gefressen haben?
– Woher weiß das kleine Frollein denn von solchen städtischen Angelegenheiten, das sollte doch absolut geheim bleiben, fauchte der Pförtner Fred an. (Ich ging vorsichtig ein paar Schritte rückwärts.) Fred zuckte nur mit den Schultern:
– Weiß ich doch nicht. Was sind das denn für Angelegenheiten, dass die so geheim und wichtig sind?
Ich bewegte mich langsam auf die Ecke des Pförtnerhäuschens zu, hinter der die Straße lag. Zum Glück waren die beiden gerade sehr mit sich selbst beschäftigt.
– Keine Ahnung, schnauzte der Pförtner und machte ein ziemlich dummes Gesicht. Ich bekam vor ein paar Tagen Anweisungen, dass da was passiert hinten im Depot und dass ich nicht drüber reden soll. Dabei weiß ich doch gar nicht, was da abgeht. Aber wieso weiß dann das kleine Frollein Bescheid?
– Ja, sagte Fred, wieso… Er und der Pförtner drehten sich nach mir um – aber da war ich schon schwupp! um die Ecke. Die Sache war mir nämlich irgendwie zu heiß geworden. Zum Glück fuhr gerade eine Straßenbahn los Richtung Stadtmitte. Bevor der Pförtner oder Fred auch nur daran denken konnten, mir hinterher zu laufen, war ich auf den letzten Drücker rein in die Bahn und weg.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass da niemand der Bahn hinterher lief, setzte ich mich und schnaufte erst einmal tief durch. Dann schnaufte ich weiter – aber vor Wut. Von wegen Geheimbund! Die kleinen Mönche hatten mich hintergangen. Hatten in einer einzigen Nacht-und-Nebel-Aktion sowohl Fred Fortein und den Pförtner als auch Mama und Papa ihren Glitzerstaub des Vergessens in die Nasen gepustet. Während die schliefen. Das fand ich so was von gemein! Jetzt war ich die einzige, die von den kleinen Mönchen wusste. Okay, Finanzamt, meine Elster, wusste es auch. Aber wie sollte ich mit der reden? Ich fühlte mich irgendwie allein gelassen. Und ich hatte verschärften Gesprächsbedarf.

Beim Abendessen, zu dem ich pünktlich wieder zu Hause war, stellten meine Eltern die üblichen Fragen nach Marie, was wir so gemacht hätten und so weiter. Ich gab die üblichen Antworten, mit denen man Eltern beruhigen kann. Nach dem Abendessen murmelte ich was von „Puh, Stadt macht müde, gute Nacht“ und verschwand in meinem Zimmer. Dort wartete ich, dass es dunkel wurde und meine Eltern zu Bett gegangen waren. Wie gesagt hatte ich verschärften Gesprächsbedarf, und ich war mir ziemlich sicher, die kleinen Mönche wussten das.

Es war kurz nach Mitternacht, als es vertraut zwitscherte. Ich hatte kurz vorher erst das Licht aus- und meine Tür einen kleinen Spalt aufgemacht, war also noch wach. Am Fußende meines Bettes saßen die fünf kleinen Mönche wie immer aufgereiht nebeneinander auf dem Holzrahmen und schauten mich lächelnd an. Dann schwebten sie alle gleichzeitig auf die Bettdecke, genau unter meine Nase. Dann schnipps! die Glocke aus Zauberglitzer, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten, ohne dass außerhalb der Glitzerglocke davon etwas zu hören war. Und das war auch dringend nötig.

– Sagt mal, ihr kleinen Racker, schimpfte ich los, was fällt euch eigentlich ein, meinen Eltern, Fred und sogar dem Pförtner mit eurem Glitzerstaub die ganze Erinnerung an alles wegzunehmen? Einfach alles so löschen, das geht doch gar nicht. Und wieso der Pförtner? Der hatte doch eh keine Ahnung von nix und…
– Da, unterbrach mich der Abt, da war Elhasa, den ich mit der ganzen Mission beauftragt hatte, in der Tat ein wenig zu eifrig. Aber irgendwie verändert hat es den Pförtner nicht.
Stimmt, dachte ich, der ist immer noch so blöd.
– Also, liebe Karoline, fuhr der weise Abt fort, bitte beruhige dich. Wir können deine Empörung gut verstehen, jedoch, das Risiko war uns zu groß, dass sich irgendjemand mal verplappert. Bedenke bitte, mit wie vielen Menschen deine Mutter und dein Vater Kontakt haben. Und Fred Fortein erstmal.
– Und außerdem, fügte der gebildete Ilhasa hinzu, außerdem sind sie ja nicht komplett gelöscht. Das Wissen ist nicht weg, es ist nur woanders. Und wenn es nötig ist, dann kommt das Wissen zu deinen Eltern und zu Fred Fortein zurück.
– Okay, Jungs, rief ich, eure Gründe akzeptiere ich schon. Aber dass ich jetzt die einzige bin, die Bescheid weiß, dass finde ich ziemlich doof. Das macht mich irgendwie einsam, denn außer mit euch kann ich mit keinem Menschen über euch und das ganze Drumherum reden.
Sprach’s und machte mein Karoline-ganz-traurig-und-allein-Gesicht. Ob es dann dessen Wirkung war oder ob die Mönche alles schon vorher geplant hatten, weiß ich nicht, jedenfalls flüsterte Alhasa dem jungen Ulhasa etwas ins Ohr, worauf dieser durch eine plötzliche Öffnung die Glitzerglocke verließ und durch den Spalt meiner Zimmertür verschwand.
– Wo geht Ulhasa denn hin?, fragte ich.
– Geduld, liebe Freundin Karoline, antwortete Alhasa, er ist gleich wieder da.
Und da öffnete sich auch schon wieder kurz die Glitzerglocke, es kam was herein gehuscht, das ging alles so schnell, ich kam gar nicht mehr mit, doch dann, doch dann, dann sah ich neben Ulhasa – eine Elster. Aber nicht irgendeine Elster. Nein, es war meine Elster, es war Finanzamt. In meine erste Begeisterung mischte sich langsam Ratlosigkeit:
– Aha, und jetzt soll ich mich wohl mit Finanzamt unterhalten, auf Elsterisch, rätsch rätsch oder was?
– Karoline, hörte ich da eine angenehme, weibliche Stimme, Karoline, entspann dich.
– Wer war das?, rief ich. Mönche, habt ihr gesprochen?
Ich sah mir jeden von ihnen von ganz nah und ganz genau an, mit dem Karoline-super-böse-Blick.
– Wer von euch hat das gerade gesagt?
Die fünf kleinen Mönche grinsten mich an und schwiegen. Dann legten sie alle eine Hand vor den Mund.
– Die waren das nicht, Karoline, ich bin es, die mit dir spricht.
Ich wirbelte herum und starrte nun die Elster an:
– Was hast du da gerade gesagt?
Die Elster sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Und wieder hörte ich diese tolle Stimme, ohne dass die Elster ihren Schnabel bewegte:
– Ich sagte, du kannst dich entspannen, tönte es erneut sanft in meinen Ohren, oder genauer: in meinem Kopf. Wir werden ab jetzt viel miteinander sprechen.
– Ja, aber, ich schaute verwirrt von der Elster zu den grinsenden Mönchen und zurück, ich hör die Elster sprechen, aber ich seh sie nicht sprechen, was… wie…
– Telepathie, Karoline, sagte Alhasa. Bei Bedarf können wir dafür sorgen, dass sich Lebewesen gedanklich so austauschen, als würden sie miteinander sprechen.
– Das geht aber nicht bei allen Lebewesen, ergänzte Ilhasa.
– Manche sind einfach zu doof dazu, fügte Ulhasa hinzu, was ihm einen strafenden Blick seines Abtes einbrachte. Anschließend ermahnte mich Alhasa eindringlich, nur dann mit Finanzamt zusprechen, wenn wir allein waren bzw. mit den kleinen Mönchen zusammen.
– Du musst selbst auch nicht sprechen, es reicht, wenn du denkst. Aber das ist nicht so einfach, das musst du üben, also sprich erst mal ruhig ganz normal mit ihr, nur, pass auf, dass es niemand mitkriegt. Das gilt übrigens ab jetzt auch für deine Unterhaltungen mit uns.
Ich nickte und versuchte, meine turbulenten Gedanken zu ordnen.
– Ooooh, aber wiesooo heißt die Elster jetzt Finanzamt?, grätschte mir plötzlich Olhasa dazwischen.
Der Rest der Nacht verging unter langen Erklärungen durch Ilhasa, unterbrochen von vielen klugen (und auch ein paar nicht so klugen) Fragen und endete in einem langen, gemeinsamen Erinnern an die bestandenen Abenteuer. Dann graute der Morgen und wir gingen alle ins Bett auf eine dringend benötigte Mütze Schlaf.

 

Kapitel 2: Das Ende der Ereignislosigkeit

Die nächsten Wochen verliefen in ereignisloser Harmonie. Mein Eltern waren wieder ganz normale Eltern, also liebevoll, fürsorglich und ahnungslos. Finanzamt und ich verstanden uns super und hatten eine Menge Spaß miteinander. Es war wie mit Flipper und Lassie und Fury auf einmal. Und ich lernte eine ganze Menge von Finanzamt über alle möglichen Tiere und was die so denken und einander erzählen. Das sollte mir noch sehr von Nutzen sein.

Wie gesagt: Die Zeit ging dahin in ereignisloser Harmonie. Ich ging in meine neue Schule, also in das, was Papa ein „bildungsbürgerliches Upgrade“ nannte, also ein Gymnasium. Ich machte neue Bekanntschaften, und aus der einen oder anderen wurde Freundschaft. Auch in der kleinen Siedlung aus Reihenhäusern und Doppelhaushälften, von meinen Eltern „Dörfchen“ genannt, schloss ich Freundschaft mit drei Mädchen. Wir vier wurden schnell eine richtige kleine Mädchenbande. Toll.

Und dann stand eines Tages, genauer an einem Samstagnachmittag, dieses nette, adrette ältere Paar – Mann und Frau – vor unserer Haustür und klingelte. Papa war in der Küche und hatte „Stadion“, das heißt, er arbeitete schon am Abendessen und hörte dabei Fußball im Radio. Ziemlich laut. Mama hasste es. Mich störte es nicht so sehr, ich machte mir grad ein Butterbrot.
– Mann, es hat geklingelt!, rief Mama von irgendwo her.
Papa ging und öffnete die Haustür. Ich hinterher. Aus der Küche und dem offenen Küchenfenster – es war ein schöner, sonniger Spätsommertag – plärrte es fußballerisch.
Papa musterte die beiden. Älteres, freundliches Ehepaar in gepflegter Freizeitkleidung. Die Frau hielt einen Mappe in der einen und einen Stift in der anderen Hand. Der Mann hatte eine Leine in der Hand, an deren unterem Ende sich eine Art Tier befand, in das man aber noch ein anderes Tier hineingezüchtet haben musste. Ein Dackel? Ein Dachs?
– Jaaa, bitte?, fragte Papa.
– Schönen guten Tag, sagte der Mann, dürfen wir Sie kurz stören? Es ist wichtig. Es geht um die Zukunft unseres Bachwäldchens. Das betrifft auch – er zeigt plötzlich auf mich – die Zukunft ihrer süßen Tochter.
Ich: Würg.

Das Bachwäldchen war eine Art breiter Grünstreifen, dicht mit Bäumen und Sträuchern bestanden, der sich hinter dem „Dörfchen“ nach rechts und links ausdehnte. Auf den beiden Seiten jenseits des Wäldchens befanden sich weitere Straßen und Häuser, dazwischen Gärten. Bachwäldchen hieß der Grünstreifen, weil da wohl früher mal so was wie ein kleiner Bach floss. Jetzt war es so eine Art verwilderter Park, in dem sich bei Schützenfest gerne auch mal Männer erleichterten. Es führte ein Weg hindurch, den sich Spaziergänger, Jogger, Radfahrer und sehr, sehr viele Hunde teilten. Das war unser Wissensstand bis zu diesem Tag. Aber nun wurden wir eines Besseren belehrt:
– Unser Bachwäldchen, sagte der Mann, und der Dackeldachs wedelte dazu mit dem Schwanz, unser Bachwäldchen ist bedroht. Es soll abgeholzt werden, damit man dort einen Regenwassersammelkanal bauen kann. Man will uns unter fadenscheinigen Begründungen unsere grüne Lunge wegnehmen. Und vielen Tieren, auch vielen bedrohten Tierarten, den Lebensraum rauben.
– Ach so, das, sagte Papa, ja, da habe ich drüber gelesen im Internet und dann hab ich auch gleich mal da angerufen bei der Stadt, und dort…
Papa erstaunte mich ja doch immer wieder.
– … hat man mir erklärt, dass das erstens notwendig ist, weil es in Zukunft immer öfter sehr stark regnen wird, Sie wissen schon, die Klimakrise, zweitens der alte Kanal total im Arsch ist und seinen Job nicht mehr machen kann, und drittens holzen die auch nicht das ganze Bachwäldchen ab, sondern nur rechts und links für eine Baustraße, also so insgesamt ein zehn Meter breiter Streifen, der danach wieder renaturiert wird.
In diesem Moment griff die Frau ins Gespräch ein:
– Das stimmt doch alles gar nicht. Alles gelogen. Glauben Sie das bloß nicht! Hier (sie hielt uns Mappe und Stift entgegen), Sie müssen denen zeigen, dass das nicht geht. Wir alle müssen das. Jede Unterschrift zählt!
– Sagen Sie mal, wer sind Sie denn eigentlich? Die Stimme aus dem Hintergrund gehörte Mama, die, neugierig wie sie nun mal ist, dazugekommen war.
– Oh, Entschuldigung, ich vergaß, uns vorzustellen: Mein Name ist Hans-Adolf Pafdautschik, und dies ist meine Frau Magdalene. Wir wohnen da drüben in den Häusern, da haben wir eine schöne Wohnung, mit herrlichem Blick aufs Bachwäldchen. Wir sind hier, um zu verhindern, dass man diese schöne Natur zerstört.
– Diesen seelenlosen Technokraten sind wir und unsere Natur nämlich scheißegal, ergänzte seine Frau, nun mit leichter Zornesröte im Gesicht.
– Also, ich kann Sie ja schon verstehen, sagte Mama, aber auch ich habe das ganze Projekt so verstanden, dass die Stadt verhindern will, dass uns hier bei Starkregen die Keller voll laufen.
– Und das, ergänzte Papa, ist uns, ehrlich gesagt, ebenfalls so gar nicht scheißegal.
– Das sind doch alles nur Vorwände, es hat hier doch noch nie Starkregen gegeben!, rief der Mann mit dem komischen Namen. Seine Frau nickte heftig.
– Okay, meinte Papa, dann geh ich auch nicht zur Krebsvorsorgeuntersuchung, ich hab ja noch nie Krebs gehabt.
Mama gluckste im Hintergrund. In diesem Augenblick begann der Dackeldachs wie wild zu bellen.
– Komm, wir gehen, das ist zwecklos hier, sagte der Mann zu seiner Frau, die immer noch da stand mit Mappe und Stift am Ende ihrer ausgestreckten Arme. Der Dackeldachs bellte noch wilder.
– Schönen Tag noch, sagten meine Eltern und Papa fügte hinzu:
– Und beruhigen Sie mal Ihren Amokdackel.
Dann war die Türe wieder zu und das Ehepaar Pafdautschik samt Amokdackel (Papa hatte da wirklich die passende Bezeichnung gefunden) abgezogen. Ich konnte noch gerade so sehen, dass sie bei den Nachbarn nebenan klingelten. Die hatten mehr Glück als wir: Sie waren nicht da.
– Und wegen so was verpasse ich fast die Konferenzschaltung, nörgelte Papa noch, bevor er in der Küche verschwand.
Mama und ich schauten uns grinsend an, zuckten die Schultern und wollten gerade ins Atelier bzw. Jugendzimmer zurück, da klingelte es schon wieder an der Tür. Alle drei wieder hin. Dieses Mal stand eine junge, blonde Frau vor der Tür.
– Jaaa, bitte?, fragte Papa wieder.
­– Schönen guten Tag, sagte die junge Frau, ich bin die Melanie, ich bin Ihre Nachbarin, gleich hier, zwei Türen, ich meine, Häuser weiter, Melanie Mauerbaum, um komplett zu sein.
– Na, sagte Mama, dann wollen wir auch mal komplett sein. Und stellte uns drei vor. Dann fragte sie:
– Aber wir sind uns, glaube ich, hier noch nicht über den Weg gelaufen.
– Das ist gut möglich, ich wohne erst seit kurzem hier.
– So wie wir?, rief ich dazwischen.
– Ja, nein, also, eigentlich wohne ich wieder hier. Das Haus gehörte meinen Eltern. Ich habe hier meine Kindheit und Jugendzeit verbracht. Und viele, viele Stunden davon im Bachwäldchen. Nach dem Abitur bin ich zum Studieren weg und habe anschließend in einer anderen Stadt gearbeitet. Und dann sind meine Eltern vor einiger Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Ich bin das einzige Kind. Und hatte jetzt das Haus hier geerbt. Erst dachte ich, es zu verkaufen. Aber dann habe ich beschlossen, zurück zu kommen. Ich hab hier in der Stadt einen prima Job und lebe nun allein in meinem Elternhaus.
– Das mit Ihren Eltern muss vor unserer Zeit hier passiert sein, sagte Papa, da haben wir nichts von mitbekommen. Und Haus und Garten sahen zwar unbewohnt, aber trotzdem gepflegt aus.
– Da hat sich ein Nachbar drum gekümmert.
– Ganz schön traurige Geschichte, sagte Mama mitfühlend. Dennoch freuen wir uns auf eine gute Nachbarschaft mit Ihnen.
Melanie nickte.
– Gerade deshalb bin ich hier. Ich war vorhin in der Küche, das Fenster war auf und ich habe Ihr Gespräch mit den Pafdautschiks teilweise mitbekommen und gesehen, wie die beiden ziemlich sauer weg sind. Haben Sie die etwa abgewiesen?
– Hm, meinte Papa, die kamen uns ein bisschen komisch vor mit ihrem Amokdackel. Kennen Sie die etwa?
– Natürlich kenne ich die, und die sind überhaupt nicht komisch, das sind gute Menschen, die wie viele andere hier in der Nachbarschaft das Bachwäldchen retten wollen. Und dafür engagieren sich die beiden ganz besonders.
– Was sollen wir uns unter besonderem Engagement vorstellen, und was haben Sie damit zu tun?, fragte Mama.
– Also, Melanie holte kurz Luft, dann legte sie los:

Die alte Frau Madaschinski, die gleich um die Ecke ein Haus bewohnte, und die damals, als Melanie noch ein Kind war, oft auf sie aufgepasst hatte und die darüber zu einer Art Oma für sie geworden war, also die Frau Madaschinski hatte Melanie vor ein paar Tagen als erste von den schlimmen Aussichten fürs Bachwäldchen erzählt. Melanie wusste noch von nichts, weil sie drei Wochen in Urlaub gewesen war. Melanie war sofort sehr aufgeregt, weil ihr das Bachwäldchen so am Herzen lag, und hatte daraufhin auf nebenan.de die Frage gepostet, ob jemand wisse, was da los sei. Es kamen reichlich Antworten, die Leute waren beunruhigt, die verschiedensten Versionen kursierten. Und dann meldete sich bei Melanie das Ehepaar Hans-Adolf und Magdalene Pafdautschik und schlug vor, sich doch mal „auf ein Käffchen“ in einer nahen Kneipe zu treffen, die den bemerkenswerten Namen „Zur Beruhigung“ trug. Sie würden nämlich gern ganz konkret Widerstand leisten gegen die Pläne der Stadt. Gesagt, getan. Nach dem „Käffchen“ war Melanie dann von den beiden äußerst angetan und beschloss, sich ihnen anzuschließen.
– Es tut so weh, endete sie schließlich ihren Vortrag, wenn ich daran denke, dass so viele schöne Bäume sterben müssen. Ich habe da als Kind so viele wunderbare Stunden verbracht. Ich muss da einfach was machen. Und so wie ich denken die Pafdautschiks und viele, viele andere Menschen, die rund ums Bachwäldchen wohnen. Demnächst startet da was, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie (Melanie schaute mich ganz lieb an), wenn ihr dabei seid. (Kurzes Zögern) Aber Sie können ja noch unsere Petition im Internet unterschreiben.
– Ihre oder die der Pafdautschiks?
Jetzt wurde Papa ein bisschen gemein, fand ich. Fand auch Melanie. Die schaltete von Ganzliebgucken auf Ganzbösegucken. Zum Glück griff Mama ein:
– Wie auch immer, liebe Melanie, seien Sie gewiss, wir denken auf jeden Fall noch mal gründlich über alles nach.
– Denn eigentlich sind wir ja auch pro natura, ergänzte Papa, der merkte, dass da Wogen zu glätten waren.
– Vor allem aber, fügte Mama hinzu, hoffen wir, dass Sie und wir, liebe Melanie, richtig gute Nachbarn werden. Und wenn wir gemeinsam bewirken können, dass uns allen das Bachwäldchen möglichst unversehrt erhalten bleibt – um so besser.
– Ja, ja, rief ich, das muss unbedingt so!

Da lächelte Melanie erst meinen Eltern und dann mir wieder sehr lieb zu, wobei sich ihre und meine Augen irgendwie trafen, also ihre braunen und meine grau-grünen, so ganz kurz, und das gab mir ein irgendwie gutes Gefühl von aufkeimender Freundschaft. Dann nickte sie ein „Schönes Wochenende dann euch allen“ und ging nach Hause.
Und ich dachte: Jetzt werde ich aber mal wirklich zügig Finanzamt fragen, was sie dazu meint.

 

Kapitel 3: Nicht verzagen, Finanzamt fragen

– Ihr Menschen habt manchmal echt einen Sparren, schallte es mir entgegen, als ich mein Zimmer betrat. Rasch schloss ich die Tür hinter mir.
– Wie bist denn du hier rein gekommen?
– Fenster auf kipp, Elster rein, antwortete Finanzamt, und außerdem hast du ja ein Problem, bei dem ich dir helfen soll.
Finanzamt legte den Kopf schief:
– Stimmt’s?
Ich nickte stumm, schloss erst mal das Fenster und drehte auch noch den Schlüssel im Türschloss. Vorsichtshalber. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, und Finanzamt setzte sich wie immer oben auf den Rand des Bildschirms meines Computers.
– Was weißt du über diese Geschichte?, fragte ich. Also das mit der Zerstörung des Bachwäldchens, damit wir gegen Regen geschützt sind, und dass da Leute sind, die das nicht wollen, weil das alles Quatsch ist und gelogen und deshalb protestieren die jetzt und…
– Gaaaaanz ruhig, Karoline, unterbrach mich Finanzamt, wir finden das zusammen heraus. Aber zuerst erzähle ich dir, was der Buschfunk so sagt.
Karoline-Fragezeichen-Gesicht. Könnten Elstern grinsen, Finanzamt hätte es jetzt getan.
– Buschfunk nennen wir Tiere alles, was wir uns innerhalb eines Waldes, eines Parks, eines Gartens an Informationen so zukommen lassen. Um ehrlich zu sein: Das Meiste ist Klatsch und Tratsch. Da sind wir nicht anders als ihr Menschen.
– Und hier bei uns, Pardon, bei euch im Bachwäldchen gibt es auch so einen Buschfunk?
– Aber hallo, sagte Finanzamt, und bisschen Stolz schwang in ihrer Stimme.
– Und was sagt der Buschfunk so?, fragte ich.
Finanzamt wurde ernst:
– Der Buschfunk sagt: Das kommt was auf uns zu. Wir wissen nicht genau, was es ist, aber es ist sehr, sehr groß.
Das war dann wieder einer der Momente, an dem ich dachte: Diese Elster hat definitiv zu viele Star-Trek-Filme gesehen.
Finanzamt vor fort:
– Eine Meise, die im Baumaschinenlager der Stadt nach einem Nistplatz suchte, bekam mit, dass die Menschen irgendetwas vorhaben. Sie liefen überall hin und her, quatschten aufgeregt miteinander und in ihre Mobiltelefone. Außerdem kletterten sie auf einigen dieser sehr, sehr großen Geräte und Maschinen herum und schrieben komische Zeichen auf ein paar von ihnen. Ganz so, als wollten sie die demnächst benutzen.
– Und was sind das für Maschinen?, fragte ich.
– Das habe ich die Meise auch gefragt, antwortete Finanzamt, aber die Meise meinte, sie sei eine Meise und habe keine Ahnung von Menschenmaschinen. Also bin ich selbst hingeflogen.
– Und?
– Es sind Baumaschinen. Bagger, Bulldozer, Kipplaster – alles Zeugs, um Erde zu bewegen. Sehr viel Erde. Aber was ich besonders interessant finde…
– Ja?, ich wurde langsam ungeduldig.
– Was ich besonders interessant finde, fuhr Finanzamt unbeirrt fort, ist die Tatsache, dass sich zwei Männer direkt unter der Dachrinne, in der ich lauschte, über Forstmaschinen unterhielten.
– Forstmaschinen? Schon wieder das Karoline-Fragezeichen-Gesicht.
– Forstmaschinen, ertönte plötzlich dozierend die Stimme von Ilhasa in meinem Kopf, Forstmaschinen nennt man alle Maschinen, die beim Ausheben, Ernten und Veredeln eines Waldgebiets helfen. Diese drei Phasen erfordern sehr unterschiedliche Arten von Forstausrüstungswerkzeugen, aber alle arbeiten zusammen, um sicherzustellen, dass die Arbeit gut erledigt wird.
– Ja, aber, was…, stotterte ich.
– Aushubmaschinen sind z.B. die Sägen, mit denen ein Baum gefällt wird. Die sogenannte Ernteausrüstung umfasst Buncher, Lader und Erntemaschinen. Finishing-Maschinen sind alles, was hilft, den Wald zu roden, um entweder Bäume neu zu pflanzen oder, wie bei diesem Projekt, mit dem Bau zu beginnen. Sie sind wie eine Art Bulldozer.
Verdutzt schaute ich Finanzamt an. Die Elster nickte:
– Unser Ilhasa, der weiß aber auch alles.
– Ja, aber, wie kommt gerade jetzt Ilhasa in meinen Kopf?
– Das erkläre ich dir später mal, hörte ich die Stimme des gebildetsten aller kleinen Mönche. Aber jetzt muss ich wieder an meine Forschungen. Bis bald, kleine Karoline.
Sprach’s und war wieder raus aus meinem Kopf.
Ich schüttelte mein armes Haupt zwei, drei Mal, dann sah ich ernst die Elster an:
– Jetzt will ich alles wissen über dieses Vorhaben im Bachwäldchen.
– Kein Ding, antwortete Finanzamt, hast du Gummibärchen?